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Meine Vorstellung und Einfluss der Persönlichkeit auf Frugalismus

Hallo Leute,

kurze Vorstellung meinerseits:

Meine Frau und ich sind Ende 30, wir haben zwei Kinder in der Grundschule und arbeiten beide als Führungskräfte in Voll- bzw. (meine Frau) Teilzeit. Zwischen 20 und 30 haben wir uns überwiegend auf unsere Jobs und Freizeit konzentriert, mit Anfang 30 innerhalb von zwei Jahren unsere Kinder bekommen und über mehrere Jahre Omas Häuschen (Glücksfall) auf dem Land saniert. Aktuell verdienen wir beide ganz gut, sind (schon immer) schuldenfrei und sparen monatlich rund 50% unseres Einkommens, etwa die Hälfte davon in einen FTSE All World und die andere Hälfte in Cash, plus hin und wieder mal eine Goldmünze. Durch die Sanierung des Hauses lässt unser liquides Vermögen auf absehbare Zeit kein klassisches FIRE zu (was aber ohnehin nicht unser Ziel ist), dafür haben wir aber wie gesagt keine Schulden, niedrige Wohn- und Nebenkosten und verdienen deutlich mehr, als wir zum Leben benötigen.

Theoretisch könnten wir die Sparquote natürlich weiter erhöhen, konzentrieren uns aber auch auf das Leben im Hier und jetzt und nehmen dafür bewusst in Kauf, dass das eben auch Geld kostet - auch wenn wir unsere Perspektive frei nach Erich Fromm ebenfalls eher auf das Sein und nicht das Haben richten. Insofern betrachten wir uns zwar nicht als Frugalisten in Reinform und klassisches FIRE ist keine Option für uns, achten aber trotzdem auf eine gute Balance zwischen Arbeit und Konsum, ohne dabei in hektisches Karrieregerenne oder Verschwendung abzudriften. Ich würde z.B. in meiner aktuellen Situation nicht noch mehr arbeiten wollen, auch wenn ich dadurch mehr sparen oder investieren könnte. Das hat aber auch noch andere Gründe, wie ich weiter unten schreiben werde.

Bezogen auf FIRE ist meine Perspektive eindeutig: Ich lebe nur einmal und weiß nicht, wie lange - insofern sind mir die oben beschriebene Balance und Zufriedenheit im Hier und Jetzt wichtiger, als ein mögliches FIRE-Szenario zu einem Zeitpunkt in der Zukunft, möglicherweise erreicht unter großen Opfern im Hier und Jetzt. Ich möchte mich nicht bis 40 oder 50 total verausgaben, nur um dann festzustellen, dass ich die Zeit bis dahin in Unzufriedenheit verbracht habe - und möglicherweise darüber hinaus auch noch festzustellen, dass der Plan doch nicht aufgeht (Börsencrash, Krankheit, nicht versicherte Schäden am Haus, längere Unterstützung der Kinder und so weiter).

Vor wenigen Wochen habe ich nun einen konkreten Schritt in Richtung einer frugaleren Lebensweise unternommen. Bei mir wäre innerhalb der nächsten 12 Monate ein Karriereschritt möglich gewesen und ich habe offen kommuniziert, dass ich dies ablehne und stattdessen perspektivisch etwas weniger arbeiten möchte. Das ist mir nicht leicht gefallen, ist sowas natürlich immer auch mit einer gewissen Unsicherheit verbunden. Mein direkter Vorgesetzer fand das auch nicht so gut - alte Schule: Ich leiste, also bin ich. Meine nächst höherer Vorgesetzter und unser Personalbereich haben das dagegen positiv aufgenommen und mittlerweile laufen bereits Gespräche mit einem meiner Kollegen. Insofern ist das Thema für mich nun durch. Große Sprünge im Gehalt kann ich nun nicht mehr erwarten. Trotz einer immer noch leicht vorhandenen Unsicherheit bin ich überzeugt, mich richtig entschieden zu haben: Ich liege abends im Bett und denke: GOTT SEI DANK geht dieser Kelch an mir vorüber!

Ich muss dazu sagen, und jetzt komme ich auch zum Thema Persönlichkeit, dass die erste Hälfte meiner dreißiger Jahre für mich die Hölle waren. Mit 30 habe ich zum ersten Mal Personalverantwortung übernommen (auch damals schon eher ungewollt), innerhalb von zwei Jahren kamen unsere Kinder zur Welt, eins davon mit einer unheilbaren Krankheit (mittlweile eingespielt, trotzdem erst mal großer Schock) und wir sind von der Stadt aufs Land gezogen und haben über viele Jahre unser Haus saniert. Ein reiner Kraftakt, infolgedessen ich immer unzufriedener geworden bin - bis ich im Jahr 2018 so deprimiert und unzufrieden war, dass ich am liebsten (bis auf meine Familie) alles hingeschmissten hätte. 2019 ging es dann zum Glück wieder bergauf: Die Sanierung unseres Hauses war größtenteils abgeschlossen, das Einkommen infolge abnehmender Kosten für die Sanierung und des beruflichen Wiedereinstiegs meiner Frau nahm zu und auch bei mir im Job kehrte langsam wieder etwas mehr Ruhe ein. Seitdem nimmt meine Zufriedenheit glücklicherweise wieder kontinuierlich zu.

Aber warum habe ich die letzten Jahre als Hölle empfunden? Abgesehen von der Krankheit eines unserer Kinder war unsere Situation objektiv gar nicht schlecht: Wir hatten beide gut bezahlte Jobs, vorzeitig ein Haus geerbt, keine Schulden - da gibt es viele, die ganz anders kämpfen müssen. Und für meine Frau war vieles davon auch viel weniger schlimm, als für mich. Infolge meines Schritts zur Führungskraft habe ich parallel angefangen, mich intensiv mit mir selbst und meiner Persönlichkeit zu beschäftigen. Ein gutes Modell, mehr über sich herauszufinden, sind die sogen. Big Five.

Um es mal kurz zu machen: Die Big Five beschreiben fünf Dimensionen der Persönlichkeit, auf denen sich jeder Mensch einordnen lässt. Die einzelnen Dimensionen sind Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus), Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit), Neurotizismus (emotionale Stabilität und Verletzlichkeit), Extraversion (Geselligkeit und Extrovertiertheit) und Vertäglichleit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie). Das ist keine Esotrik, sondern wissenschaftlich gut untersucht und nach meiner Erfahrung erschreckend genau. Erschreckend deshalb, weil wir alle davon ausgehen, höchst individuell zu sein - was in gewissen Maße zwar zutreffend ist, es aber eben doch auch viele Überschneidungen gibt, die zu ähnlichen Persönlichkeitstypen führen.

Nach intensiver Auseinandersetzung mit mir habe ich festgestellt, dass ich sehr gewissenhaft, verträglich und introvertiert, mittel aufgeschlossen und emotional sehr instabil bin - ich also in Neurotizismus einen hohen Score erziele. Mit anderen Worten: Ich bin ein kooperativer und empathischer Typ, der ziemlich perfektionistisch veranlagt und wenig gesellig, dafür aber ein absoluter Angsthase ist 🙂 Tatsächlich war das schon immer so, auch in meiner Jugend und Kindheit. Insbesondere die als negativ deklarierten Eigenschaften (vor allem Neurotizismus) wollte ich mir aber nie eingestehen. Ich hatte zwar immer schon so eine Ahnung, dass mit mir irgendwas nicht stimmt, habe mir immer viele Sorgen gemacht, war melancholisch, hatte riesige Angst vor Fehlern. Aber eingestehen wollte ich mir das nie so richtig. Als ich in einem Buch das erst mal über Neurotizismus gelesen hatte, war mein erster Gedanke: Ich habe das aber nicht  😉

Hohe Gewissenhaftigkeit in Kombination mit Angst vor Misserfolg sind natürlich ein guter Faktor für Erfolg. Am Ende hat es mich aber in eine Position gebracht, in der ich lange Zeit nie richtig zufrieden war. Führungsposition heißt nämlich: Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere übernehmen. Das heißt: Noch mehr Potential zu scheitern. Für jemanden wie mich, der tendenziell perfektionistisch veranlagt, ängstlich und sehr verträglich ist (= lieber Konflikten aus dem Weg geht), heißt das: Richtig viele Sorgen und Mehrarbeit. Kombiniert mit anderen Stressfaktoren wie der Geburt meiner Kinder und der Sanierung unseres Hauses war das zeitweise einfach zu viel für mich. Hätte es die Phase der Selbstreflexion nicht gegeben und die anderen Stressfaktoren nicht wieder abgenommen, wäre das am Ende vermutlich nicht gut ausgegangen. Ich war zeitweise wirklich sehr unzufrieden und düster gestimmt. Wer das liest und in einer ähnlichen Situation ist: Neben Selbstreflexion und infolgedessen Selbstakzeptanz sowie der Reduktion von Stress haben mir auch hoch dosiertes Johanniskraut (über mehrere Monate hinweg; vielleicht auch nur der Placebo-Effekt) und regelmäßiges intensives Ausdauertraining (mache ich nun dauerhaft) dabei geholfen, mein Leben wieder ins Positive zu drehen.

Jetzt habe ich viel geschrieben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass mich das Thema Frugalismus auch wegen meiner Persönlichkeit so anzieht. Dass ich versuche, Stress und Druck durch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit zu reduzieren, hat bei mir etwas mit Neurotizismus zutun: Ich möchte mein Leben nach nun knapp 40 Jahren endlich in weniger Angst und Sorgen verbringen. Dass ich etwa beim Sparen, Geldanlegen oder der Sanierung unseres Hauses diszipliniert vorgehe und nicht über die Stränge schlage, hat natürlich etwas mit Gewissenhaftigkeit zutun - aber auch mit Introvertiertheit und ebenfalls Neurotizismus (für Statussymbole gebe ich kein Geld aus, riskante Anlageformen meide ich etc.). Die Hauptmotivation für einen frugalen Lebensstil ist für mich jedenfalls definitiv von meiner Persönlichkeit getrieben und dient in meinem Fall vor allem der Vermeidung von Stress, Sorgen und Angst. Ein gewisses Maß finanzieller Freiheit und der Fokus auf das Wesentliche (Weniger ist mehr) helfen hier ungemein, mein Leben dramatisch zu verbessern.

Die Persönlichkeit kann natürlich auch ganz andere Motive hervorbringen. Extrovertierte Menschen gründen vielleicht ein Unternehmen, gehen völlig angst- und sorgenfrei durchs Unternehmertum oder durchlaufen hohe Positionen in Unternehmen, um dann wirklich mit 40 nach klassischem FIRE auszusteigen und die Welt zu bereisen oder neue Projekte umzusetzen. In meinem Fall völlig undenkbar - viel zu großes Risiko  😉

Insofern würde mich brennend interessieren, wie sich andere Frugalisten (ich bezeichne mich jetzt einfach mal so, auch wenn das möglicherweise nicht jedermanns Zustimmung trifft) auf den Dimensionen der Big Five einordnen. Sehr empfehlen kann ich hier den Test "Wirklich weiterkommen" von den Hochschulen in Sachsen-Anhalt, der aus knapp 50 Fragen besteht und ebenfalls auf den Big Five basiert:

https://wirklichweiterkommen.de/

Bei mir sieht das Ergbnis wie folgt aus - je nach Stimmung variiert das Ergbnis leicht, bleibt im Kern aber immer dasselbe:

Big Five

Vielleicht macht Ihr den Test auch mal und postet hier die Ergebnisse - würde mich wie gesagt brennend interessieren.

Viele Grüße
Starsailor

Hallo @starsailor,

was für eine sympathische und selbstreflektierte Vorstellung! Wie schön, dass du die Phase, wo alles zusammen kam, am Ende gut gemeistert hast. Nach der Beschreibung wäre das fast unabhängig vom eigenen Wesen schwierig geworden. Du scheinst ein gutes Gespür für dich selbst, aber auch für andere zu haben. Das halte ich für eine sehr wichtige Eigenschaft, um ein zufriedenes Leben zu führen. Wahrscheinlich gerätst du auch nur selten in ernsthaften Streit mit anderen, und wenn dann bist du eher nicht der Auslöser, oder?

Deine finanzielle Situation hast du ja nur grob umrissen. Mit eurer Sparrate gibt es trotz Haus für die Zukunft sicher viele Möglichkeiten - früh in Teilzeit gehen, ein Jahr Auszeit, ggf. sogar mit Reise, oder so bald es möglich ist in den Ruhestand gehn? Oder einfach "konventionell" weiter leben, aber entspannter mit dem Depot im Hintergrund?

Der Persönlichkeitstest ist spannend. Ich habe ihn mal gemacht, Ergebnis siehe Anhang. So richtig klare Tendenzen wie bei dir gibt es nicht, außer einer gewissen Introvertiertheit. Gibt es denn über die Selbsterkenntnis heraus auch Empfehlungen, was man mit der Auswertung macht? Macht es Sinn an den Punkten zu arbeiten, und wenn dann eher an den Stärken oder den Schwächen?

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Hallo @thewanderer,

vielen Dank für die nette Begrüßung, trotz meines im Rückblick doch etwas lang geratenen Textes  😉

Deine Annahme hinsichtlich Steitereien ist korrekt - ich bin harmoniebedürftig und eher auf Kooperation als auf Wettbewerb geeicht, insofern bin ich tatsächlich so gut wie nie in Konflikte verwickelt und noch seltener Auslöser für solche Situationen. Im Bild der Big Five ist das durch die bei mir hohe Veträglichkeit begründet. Übrigens eine Eigenschaft, die mir auch im Miteinander bei anderen sehr wichtig ist, andernfalls passt die Chemie meist nicht. Empathie- und rücksichtslose Menschen sind mir grundsätzlich eher unsympathisch. Gleiches gilt für die Dimensionen der Gewissenhaftigkeit und Extraversion. Wenig gewissenhafte und sehr extrovertiere Menschen sind mir meistens etwas suspekt und ich verbringe ungerne Zeit mit ihnen.

Hinsichtlich der finanziellen Situation strebe ich den von Dir letztgenannten Punkt an, also alles etwas entspanner anzugehen, mit dem Wissen, dass ich im Zweifel auf eine Reserve zurückgreifen kann und mich deshalb nicht mehr so sehr unter Druck setzen lassen muss. Aufgeben würde ich meinen Job Stand heute eher nicht, da mir das Risiko zu groß wäre - am Ende sind eigene Qualifikation und Arbeitskraft aus meiner Sicht schon wichtige "Assets", das ich ungerne leichtsinnig aufgeben möchte - und auch ein Depot im hohen sechsstelligen Bereich fällt da bei mir noch unter Leichtsinn (was aber sicher auch meiner Persönlichkeit geschuldet ist).

Über die Frage, ob man eher Schwächen ausgleichen oder sich auf die eigenen Stärken konzentrieren sollte, kann man lange diskutieren. Aus meiner Sicht sollte man auch hier eine gute Balance zwischen Selbstoptimierung und Selbstakzeptanz finden. Nach meinem Empfinden mit einer Tendenz zu Letzterem, sich also vor allem auf die eigenen Stärken konzentrieren und darauf achten, dass die eigenen Schwächen so wenig wie möglich einschränken. So ist es auch bei mir: In manchen Dingen bin ich durch meine Stärken richtig gut und erfolgreich, manch andere sollte ich dagegen eher meiden - wie etwa bei mir den Ausbau von Personalverantwortung, dann da sind Ängstlichkeit und eine zu hohe Harmoniebedürftigkeit eher Fehl am Platz. Wichtig ist ansonsten aus meiner Sicht vor allem, sich selbst gut kennenzulernen und dabei ehrlich mit sich zu sein.

Wenn Dich das Thema interessiert, kann ich Dir vor allem das Buch "Persönlichkeit: Warum Du bist, wie Du bist" vom Evolutionsbiologen Daniel Nettle aus England empfehlen. Der hat übrigens auch ein lesenswertes Buch zum Thema Glück und Zufriedenheit geschrieben. Ebenfalls empfehlenswert ist das Buch "Persönlichkeit: was uns ausmacht und warum" von Jens B. Asendorpf aus Deutschland.

Viele Grüße
Starsailor

Alles Gute auf Deinem weiteren Lebensweg. Ich wünsche Dir, dass Du weiterhin es schaffst, die Tiefs, die es im Leben unweigerlich gibt, gut zu meistern.

Interessanter Test.

Ergebnis siehe Anhang

 

 

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